Der tote Hund

Ein dramaturgischer Beitrag zum Thema Kultserien

Ein Gastbeitrag von Jürgen Seidler

 

Wer sich erinnert: Die Serie „House of Cards“ beginnt damit, dass der Protagonist Francis Underwood einen angefahrenen Hund erwürgt. Dabei spricht er über Schmerzen, die er in zwei Kategorien einteilt, in solche die unnötig sind und in solche, die einen stärker machen.

Dieser tote Hund steht für mich zeichenhaft für eine andere Dramaturgie, die mit dieser und weiteren Serien, einhergeht. Das Tier, als mögliches Objekt der Einfühlung und Identifikation, wird getötet. Wenig später, noch bevor wir die Titel der Serie lesen, spricht der Protagonist zu uns, dem Zuschauer und erklärt die politischen Zusammenhänge, in die uns die Serie entführen wird. Dieses Brechtsche Moment der Ansprache an die Zuschauer und die Verweigerung der emotionalen Einfühlung bestimmen diese jüngste amerikanische Serie, die wir auch in Deutschland breit und feuilletonistisch diskutieren. Dieser schon sehr entwickelten Diskussion möchte ich einige Aspekte als Autor und Dramaturg anfügen, der vor allem in Deutschland sein Brot verdient.

Standen bei den „Sopranos“ und auch noch in „Breaking Bad“ die Familie als moralischer, wertehaltiger Bezug im Mittelpunkt der Erzählung, so ist dieser uramerikanische Wert in „House of Cards“ aufgegeben worden. Es zählt nur noch die egozentrische Liebe zu sich selbst, die Anbetung des Ichs. In allen dreien dieser Serien sind die männlichen Protagonisten Mörder, was schon einen wesentlichen Paradigmenwechsel darstellte. Die Verweigerung weiterer emphatischer Mittel zur Identifikation mit den Protagonisten ist nur ein konsequenter Schritt.

Tatsächlich aber „zeigt“ uns diese Serie genau diesen Verlust von Moral und Ethik in unseren Gesellschaften. Sie legt die Mechanismen von Politik bloß, erzählt uns von unbarmherzigen Machtmechanismen, die uns regieren. Damit verweist diese Serie, wie andere davor, mit ihren erzählerischen Mitteln, mit ihrer Dramaturgie und ihren Inhalten auf die Gesellschaft zurück und erzählt von einem ungeheuren Verlust. Durch diese amerikanische Serien kommen Brechtsche Mittel des Erzählens wieder zu uns zurück. Wäre es nicht an der Zeit Brecht, als einen unserer wichtigsten Autoren, wieder zu beleben und zumindest einige seiner Überlegungen für das Erzählen von Geschichten zu nutzen?

Die Autoren, die nicht mehr nur als Ideengeber fungieren, sondern auch als Produzenten im Zentrum stehen, erlauben sich klare Haltungen und Positionen. Sie setzen sich aus, nehmen die Dinge des Erzählens in die eigene Hand und gehen auf Konfliktkurs. Diese Autoren haben begonnen den gesellschaftlichen Raum zurückzuerobern und moralische Fragen zu stellen. Damit sabotieren sie auch das Konsensgeschäft des Fernsehens. Das funktioniert, wie wir wissen, nur wenn die Autoren ins Zentrum des Geschehens rücken und neben den kreativen Produzenten das Sagen haben – nicht die Redakteure und nicht die Regisseure.

Ein weiteres dramaturgisches Mittel dieser Art von Serie ist die horizontale Erzählung. Damit wird eine starke Bindungswirkung des fortlaufend erzählten Romans genutzt. Allerdings kann die Dramaturgie des Romans bewusst das Abgeschlossene und Fertige verweigern, und damit auch die Beherrschbarkeit der Erzählung. Es kann innerhalb der Geschichte immer so weiter gehen oder immer schlimmer werden (wie in „Breaking Bad“). Wie nie zuvor in der westlich geprägten Film-und Fernsehgeschichte hat sich die episodische Form der Erzählung ihren Raum erobert. Man könnte auch sagen, dass noch nie so viel Geld in das episodische Erzählen investiert wurde – wenn man die Soap-Serien mal aussen vor lässt.

Deutsche Serien waren bisher von Fallstrukturen bestimmt, von vertikalen Erzählstrukturen. In jeder Episode wurde am Ende eine Norm wieder hergestellt, eine psychische, physische oder rechtliche Verletzung geheilt. Der „Tatort“, dieses mediale Lagerfeuer unseres Landes, macht dies noch heute. Wenn am Ende der Erzählung der Mörder gestellt ist, hat der gesellschaftlich beauftragte Ermittler – wie kaputt oder gesund er auch sein mag – den Bruch geheilt, den Abgrund wieder zugeschüttet.

In den genannten amerikanischen Serien gilt dies nicht mehr. Der Ausgang ist ungewiss, die Norm wird nicht mehr hergestellt. Das Böse entkommt, kann nicht mehr bestraft, sein moralisches Rätsel nicht mehr gelöst werden. Die horizontale Form der Erzählung ermöglicht den Autoren eine starke Drohung an das Publikum: „Es geht nicht gut aus!“

Selbstverständlich kann sich auch der dramatisch erzählte, einzelne Film einem positiven Ende verweigern. Nimmt diese Haltung aber eine viele Millionen schwere, weltweit beachtete Serie ein, so hat dies, zumindest für die aktuelle Diskussion, mehr Relevanz. Und dabei ist es unerheblich, ob diese mit negativen Helden bevölkerten Serien, in absoluten Zahlen mehr oder weniger Zuschauer erreichen, als der deutsche Tatort. Allein die Diskussion um diese Art von Inhalten und Form, der in unserem Geschäft beteiligten Mitspieler, also Programmdirektoren, Redakteuren, Produzenten und Autoren machen diese Erzählungen zu relevanten Stoffen.

Dass diese Auseinandersetzung auch in Deutschland angekommen ist, kann aktuell bei „Der letzte Bulle“ besichtigt werden, dessen letzte Staffel horizontal erzählt wird. Wie man hört hat der Hauptdarsteller Henning Baum dafür seinen ganzen Einfluss genutzt. Der Mut von Sat.1 wurde mit guten Quoten belohnt.

Mit diesen Serien wird also eine Dramaturgie populär, in der mit den verschiedensten Mitteln des episodischen Erzählens gespielt wird. Die aristotelische, dramatische Form von Anfang Mitte und Ende ist damit nicht abgeschafft. Ihre normative Dominanz, die wir durch zahlreiche amerikanische Drehbuchschulen von Syd Field, über Linda Seger, bis zu Robert McKee und ihren deutschen Apologeten kennengelernt haben, sollte aber in Frage stehen. Ebenso wie die psychologisch geprägte Dramaturgie, die in Deutschland aktuell von Roland Zag – oder in der Vergangenheit von Dirk Blothner – vertreten wird.

Die Dramaturgie der aristotelisch-amerikanisch geprägten Schule, aber auch die psychoanalytische Variante, sieht den Zuschauer letztlich als erziehbares Objekt, als eine verfügbare, beschreibbare Masse, die mit einer narrativen Form an die Leine gelegt und zum Trog geführt werden kann. Genau das verweigern nun vor allem die jungen Zuschauer der westlichen Welt.

Die digitale Form der Produktion und Distribution von Filmen und Serien ermöglicht einerseits die viel beklagte kostenlose Rezeption dieser Werke. Andererseits eröffnet die episodische Dramaturgie eine Welt der Erzählung, die um vieles reicher ist und durch ihre moralische Anti-Haltung viel eher den „Nerv“ trifft. Mit Freuden sehen diese Zuschauer, wie die erzählerischen Grenzen gesprengt und die vorhersehbare Dramaturgie einfach mal nicht bedient wird.

Ich habe nichts gegen berechenbare Geschichten, ich liebe Genre, Thriller, Krimis und Komödien, aber ich plädiere dafür die old school als solche zu begreifen und den Kopf aufzumachen. Dramaturgen und Autoren sollten sich an denselben fassen und ihre dienende Position aufgeben.

Antihelden und negative Helden feiern ein großes Comeback. Nicht nur in den „Sopranos“ und Co. Im letzten Jahr hat der kleine, episodische Film „Oh Boy“ den deutschen Filmpreis gewonnen. Die Hauptfigur ist ein klassischer Antiheld mit hybrider Moral, der ohne Ziel durch Berlin treibt. Und „Oh Boy“ hat zudem eine nicht unerhebliche Zahl von Zuschauer in die Kinos gelockt.

Auch die Entwicklung von Figuren, schon immer eine der edelsten Aufgaben der dramaturgischen Arbeit, steht vor neuen spannenden Herausforderungen. Über dreizehn und mehr Folgen, gar über mehrere Staffeln, können vielfältige innere Abgründe und Wendungen erzählt werden. Das gilt vor allem für Serien und Spielfilme, die jetzt, hier und heute, in diesem Land geschrieben werden.

Was wir als Autoren und Dramaturgen jetzt entwickeln, wird in zwei, drei Jahren, wenn das dritte goldene TV Zeitalter Deutschland erreicht hat, auch hier produziert werden. Meiner Überzeugung nach ist es nur eine Frage der Zeit, bis Netflix, Amazon, Yahoo und Sky auch auf dem größten und wichtigsten europäischen Markt eigene Serien, Reihen und Spielfilme in Auftrag geben. Wir können schon jetzt darauf gespannt sein, wie die öffentlich-rechtlichen Sender, aber auch die Privaten, mit ihren jährlichen Milliardenbudgets darauf reagieren werden. Noch trauen sie sich nicht so recht, aber ich freue mich schon darauf, wenn auch bei uns Mörderinnen (nur ein Beispiel) zu Heldinnen werden.

Vielleicht müssen wir unsere Hunde zum Jagen tragen. Also diejenigen Redakteure und Produzenten an die Hand nehmen, wenn sie nach der Buchbesprechung ebenfalls von einem anderen deutschen Fernsehen träumen.

Bisher habe ich mich in der Formulierung von dramaturgischen Positionierungen öffentlich zurück gehalten. In der Diskussion mit Autoren, Produzenten und auch mit den Drehbuchstudenten, mit denen ich arbeite, fordere ich aber immer wieder, Haltung zu beziehen. Da kann ich mich selbstverständlich nicht ausnehmen. Ich halte es für wichtig, aus der vielfältigen Diskussion um Kultserien auch für die Dramaturgie Konsequenzen zu ziehen. Vor allem weil das Handwerk des episodischen Erzählens, wie es Dagmar Benke in ihrem Buch „Freistil“ beschrieben hat, sich inzwischen aus der Nische ins Zentrum bewegt hat. Das ist ein wichtiger Paradigmenwechsel.

Um weiter ernst genommen zu werden, halte ich es für wesentlich, von diesen Entwicklungen zu lernen und für unsere Geschichten zu nutzen. Autoren, Produzenten, Redakteure und Verleiher des deutschen Films und der deutschen Serie (und übrigens auch der Games) brauchen fachkundige Streiter, die Partner für diejenigen sind, die mit ihren Visionen den Markt aufmischen wollen. Nur so werden wir auf das selbstbewusste, eigenständige Publikum treffen, das wir uns für unsere Filme und Serien wünschen und brauchen. Wenn wir die Menschen ernst nehmen, wenn wir uns selbst als Teil der andauernden Erzählung unserer Gesellschaft und des Lebens begreifen, dann schaffen wir es, die Hirne und Herzen mit unseren Geschichten zu erreichen.

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Jürgen-Seidler

JÜRGEN SEIDLER ist Dramaturg, Autor, Produzent und Geschäftsführer von Script House. Er unterrichtet an der dffb, leitet Workshops in Deutschland, Europa und Afrika und realisierte als Autor und Regisseur verschiedene Dokumentarfilmprojekte. Er ist Mitglied der Europäischen Filmakademie und war Gründungsmitglied von VeDRA, Verband Deutscher Film-und Fernsehdramaturgen.