Flügelschläge im Wertegewitter

Bekenntnisse eines Dramaturgen

Gastbeitrag von Roland Zag

Roland Documenta ohne rot_0Während der Berlinale, oder auch während der Zeit um die Verleihung des deutschen Filmpreises herum, hört man sie wieder besonders laut: die Unzufriedenen, die Empörten, die Enttäuschten. Jedes Jahr wieder kommt der deutsche Film schlecht weg. Von denen, die wissen, wie alles besser wäre, erhält er seine üblichen Ohrfeigen: er sei zu mutlos, zu wenig radikal, zu erfolglos, zu sehr am Erfolg orientiert, zu sehr… (man kann die Begriffe irgendwann austauschen). Reflexartig kommt danach der Blick über den Rhein, nach Frankreich, wo angeblich alles besser ist: die kommerziellen Filme kommerzieller (“Ziemlich beste Freunde”, “Willkommen bei den Sch’tis”), der Arthouse-Film radikaler (Stichwort: Filmfestival in Cannes).

Wer hat nun Recht?

Mir kommt vor: die Diskussion ist so alt wie die Geschichte der Kunst. Schon immer gab es den Prioritätenstreit zwischen der Ethik der Mehrheit und jener der Minderheit. Zwischen Anpassung und Rebellion. Immer gab es Leute, welche die Kunst heiter, zugänglich und konventionell haben wollten – und solche, die für Innovation, Herausforderung, Radikalität standen. Die einen lieben den Mainstream, die anderen dürstet es nach schwieriger Kost. Es scheint eine Art Naturgesetz zu geben, das dafür sorgt, dass jedem Trend, der sich zur Mehrheitsmeinung herausbildet, ein Gegentrend antwortet, der die Abspaltung fordert. Immer schon gab und gibt es Menschen, die mehr den Mainstream lieben und solche, die schwere Kost bevorzugen. Die einen sind viele, die anderen wenige. Das ist unabwendbar und wird so bleiben.

Die Schwierigkeit, die sich aus den fortwährenden Ermahnungen in den Feuilletons ergibt, liegt darin, dass hier unter dem Deckmantel eines künstlerischen Qualitätsurteils Werte diskutiert werden, die tief in der individuellen Persönlichkeit desjenigen verwurzelt sind, der sie äußert. Wer sich zur einen oder anderen Richtung bekennt, sagt vor allem etwas über sich selbst aus.

Daher erscheinen mir alle Aufregungen um die künstlerische Beliebigkeit des deutschen Films oder auch seine kommerzielle Wirkungslosigkeit obsolet. Derartige Diskussion erzählen wenig über den Gegenstand (nämlich den deutschen Film) – sie geben nur Aufschluss über die Zugehörigkeit bestimmter Personen zu bestimmten Haltungen, die sie für die richtige halten.

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Ist es dann aber nicht doch für jeden, der an der Entwicklung von Drehbüchern beteiligt ist, besser, Stellung zu beziehen? Wäre es  hier nicht angebracht, sich zu positionieren, Standpunkt zu beziehen? Was findet man denn nun selbst besser: den Arthousefilm oder das Mainstreamkino? Hier möchte ich nun mit Herman Melvilles wunderbarem Bartleby, der Schreiber  gerne sagen: “I would prefer not to.” – zu Deutsch: “… lieber nicht!” Nichts erscheint mir unwesentlicher, als in dieser ewig währenden Diskussion auch noch selbst Stellung zu beziehen. Im Gegenteil.

Wichtig ist, aus meiner Sicht, der Blick auf das Spannungsfeld der gegensätzlichen Haltungen selbst. Denn der Wertekonflikt ist die Urzelle des dramatischen Erzählens. Und hier wird es im wahrsten Sinne des Wortes spannend. Denn es erscheint mir für die Drehbucharbeit nicht wichtig, welche Haltung ich ganz persönlich einnehme. Es ist nur wichtig, den Konflikt dahinter zu erkennen und zur Sprache zu bringen. Unsere Welt lebt ja in einer Art permanentem Wertegewitter, heute mehr denn je. Wir sind umgeben von Zustimmung und Ablehnung, von “Gefällt mir” oder “Freundschaftsanfrage ignorieren”, Daumen rauf oder Daumen runter. Das Dasein bewegt sich in einem permanenten Konfliktraum, in dem jeder einzelne seine spezifische Antwort auf die Frage gibt: wie soll man leben? Was ist wichtig?

Hier kann unmöglich die eine Haltung richtiger oder falscher sein als die andere – so wenig, wie es richtig oder falsch ist, weiß oder schwarz geboren, Mann oder Frau, groß oder klein zu sein. All die Klagen über die angebliche Malaise des deutschen Films sind Flügelschläge im ewig rauschenden Sturm widersprüchlicher Wertvorstellungen.

Die Idee, es gebe sozusagen einen von göttlicher Allmacht eingesetzten filmischen Olymp, in dem die wahren Meisterwerke thronen, während alle, die dieser Wahrheit nicht teilhaftig sind, sich eben täuschen, zeugt nur von den Allmachtsfantasien bestimmter Kritiker. “Nobody knows anything” – dieses berühmte Wort von William Goldman gilt vor allem auch für alle Arten von ästhetischem Werturteil. Das viel beschworene Sich-Einig-Sein, dass dieser oder jener Film doch nun mal eindeutig großartig oder Schrott ist, täuscht.

Tatsächlich kann es künstlerisch objektiv belastbare Kriterien der Qualität kaum geben. Alle Versuche, hier Maßstäbe zu erarbeiten, werden immer nur darauf hinauslaufen können, dass Mehrheiten (Jurys, Wettbewerbe, Vergabe-Kommissionen, Redaktionen) dafür sorgen, anders denkende Minderheiten nicht zu Wort kommen zu lassen. Jeder Wertekanon ist in erster Linie eine Machtdemonstration. Jedes Gerede über “Qualität”, wenn es mit absoluten Maßstäben operiert, ist schon ein Akt der Unterwerfung Andersdenkender. Da können die ewigen Listen der besten (und schlechtesten) Filme aller Zeiten sich noch so einig sein (nur weil Menschen sich einig sind, haben sie noch nicht recht): Filmkritik ist und bleibt Geschmackssache.

Kein Mensch weiß, was ein guter Film ist. Es gibt höchsten Menschen, die für sich selbst wissen, was sie für gut halten.

Der deutsche Film ist, aus dieser Warte betrachtet, weder zu arthouselastig, noch zu kommerziell. Er ist, wie er ist. Der gegenwärtige Zustand bildet nichts anderes ab als die gegenwärtigen Mehrheitsverhältnisse und die derzeit herrschenden Verteilung der Positionen und kreativen Talenten. Es erscheint mir völlig überflüssig, einzuklagen, dass es auch anders sein könnte.

Was hat das nun mit Drehbucharbeit zu tun?! Sehr viel! Denn die für mich wichtige Erkenntnis lautet: es geht auch im Geschichtenerzählen um nichts anderes, als um den Konflikt von Wertewelten. Das, was uns als Storyteller am meisten interessieren muss, sind nicht nur dramaturgische Regeln, nicht nur Strukturen und Heldenreisen. Im Zentrum alles Erzählens stehen genau diese Konfrontationen zwischen Haltungen. Denn Dramaturgie beschreibt dieses ewige Wertegewitter der condition humaine. Es ist uns Menschen leidvoll vorbestimmt, uns nicht einig sein zu können – also im Konflikt zu leben. Irgendein schwer zu erklärender, aber enorm produktiver Mechanismus bewirkt, dass zu JEDEM nur denkbaren Standpunkt irgendwann die Antithese entstehen und vertreten werden muss. Vermutlich hat dieses Gesetz dafür gesorgt, dass in der Geschichte der Menschheit die Innovation nie aufgehört hat: das Dagegen-Sein, das Zur-Minderheit-Gehören ist eine Position, die vor Bequemlichkeit und Entropie schützt und zur unendlichen Weiterentwicklung anspornt.

Gerade weil im Leben nichts so konstant ist wie der Dissens, beschäftigt sich auch das Drama damit von Anbeginn. Vom Gilgamesch-Epos über Homer, Aischylos, die Bibel, die Veden über Shakespeare bis zur heutigen Unterhaltungsindustrie geht es immer nur um eins: den (Werte)-Konflikt. Und, vor allem, die dahinter stehenden, oftmals verborgenen Glaubenssysteme, die nicht kompatibel sein können. These und Antithese sind die grundsätzlichen Denkschritte jeder Entwicklung. Dramaturgie befasst sich mit der Möglichkeit der Synthese.

Das ist in der Filmgeschichte nicht anders: Vito Corleone will in “Der Pate” etwas anderes als die Polizei, Stasi-Agent Wiesler in”Das Leben der andere” etwas anderes als seine Vorgesetzten, Batman kämpft verbissen gegen den Joker. Überall dieselbe Unvereinbarkeit. Ein Film wie “Das weiße Band” z.B. – eine der Ikonen des zeitgenössischen europäischen Arthouse-Kinos – wird genau so von einer zentralen Unvereinbarkeit getragen (zwischen autoritär organisierter Welt der Erwachsenen und einer subversiv aufbegehrenden Kinderwelt) wie “Keinohrhasen” (die oberflächliche Haltung eines Sensationsjournalisten gegenüber der Ethik einer Kindergärtnerin). Es mag despektierlich klingen, die beiden Filme in einem Atemzug zu nennen – aber dramaturgisch ist die Opposition der Grundhaltungen sehr ähnlich.

Für die Tonalität und damit das Zielpublikum eines Films ist nur ausschlaggebend, WIE dieser Konflikt beschrieben wird. DASS aber dieser Konflikt als Grundvoraussetzung da sein muss – darüber sollte genreübergreifend keinerlei Zweifel herrschen.

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Leider gelingt der Rückbezug auf den möglichst klaren Grundkonflikt  in den seltensten Fällen so schmucklos, einfach und radikal, wie es in jedem Genre ideal wäre. Warum? Ich würde auch hier wieder sagen: wegen der Konflikte und unterschiedlichen Wertvorstellungen. Nur meine ich jetzt andere als die bisher beschriebenen innerhalb der Story.

Ich spreche von jenen, die sich im Kraftfeld der Stoffentwicklung, also unter den beteiligten Menschen selbst ergeben. Denn bekanntlich schreibt kein Mensch sein Drehbuch allein. Und in der Auseinandersetzung mit Co-Autoren, Regisseure, Produzenten, Redakteuren, Förderern und Verleihern sieht sich jeder Stoff wieder unterschiedlichen Wertvorstellungen ausgesetzt. Also Konflikten. Also Dissens.

Und hier kommen wir zum Kern. Während er der Story helfen soll, den Konflikt maximal zu steigern, geht es im Stoffentwicklungsprozess darum, die notgedrungen auftretenden Konflikte zu erkennen, zu benennen und zu schlichten. In jedem Falle wird dieser Prozess die eigentliche Entstehung des Drehbuchs überlagern und beeinflussen. Manchmal ist die konflikthafte Auseinandersetzung nur unterschwellig spürbar, manchmal führt sie zu Eklats. Bisweilen ist das förderlich, in den häufigeren Fällen aber hinderlich. Vor allem aber: unvermeidlich. Hier lauern die Gefahren des Scheiterns: im Missverständnis, im Zerwürfnis, dem Machtkampf und all den anderen Spielarten der Ego-Spielchen. In all das darf man sich nicht verwickeln lassen. Das ist viel schwieriger, als das Herausarbeiten von Plot Points. In der beruflichen Praxis der Drehbuchentwicklung gehört es zur Kernkompetenz, mit gleichsam meditativer Gelassenheit alle Konflikte hinzunehmen, ohne sich verstricken zu lassen.

Die Unvorhersehbarkeit dieser Prozesse erklärt, warum so viele Filme mit unausgereiftem Drehbuch ins Kino kommen. Man kann nicht das pure Unvermögen der Beteiligten dafür verantwortlich machen. Es sind Umstände, Spannungen, Missverständnisse, Unvereinbarkeiten. Freundschaften können zerbrochen sein, Vertrauensverhältnisse untergraben, große Erwartungen zerstört. Hinzu kommt äußerer Druck: Fördertermine, Zusagen, zeitliche Rahmenbedingungen, aber auch innere Prozesse der Autoren, die sich bestimmten Herausforderungen nicht stellen wollen oder können. All das ist nicht herstellbar, nicht planbar. Es ist, wie es ist.

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Der deutsche Film wird also nicht dadurch besser, dass man über ihn schimpft. Die Tiraden der Unzufriedenen können wir getrost an uns vorbeirauschen lassen. Es gibt jede Menge Möglichkeiten, unendliche Talente, Ideen, Visionen. Jedes Jahr entstehen ca. 180 Kinofilme – jeder eine Herausforderung, sich dramaturgisch zu schulen und ein Maximum an Spannung heraus zu holen.

Die einzige Möglichkeit aber, im jeweils anvisierten Segment vergleichsweise wirkungsvoller zu erzählen (nicht: besser!), besteht darin, sich als von der Gegensätzlichkeit der Positionen nicht irre machen zu lassen. Konflikte sind dazu da, dass man sie annimmt – aber nicht bekämpft. Dann sind sie als Inspiration für die Story wertvoll. Sobald es gelingt, sie furchtlos zu betrachten, können sie die Grundspannung der Story bereichern. Das ist immer wieder möglich. Wird aber auch immer wieder scheitern. Wie das Leben halt so ist.

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Das aber, was wir aus Filmen wie “Ziemlich beste Freunde” und damit von unseren Nachbarn im Westen, den Franzosen mit ihren oft beneidenswert starken Filmen vielleicht wirklich lernen können, ist so etwas wie – ja, es fällt mir schwer, das Wort hier zu formulieren, aber ich sage es trotzdem — die Liebe.

Nun ist Liebe ja nichts, was man fordern, lernen oder dramaturgisch begründen könnte. Wir wissen ja nicht mal, ob es sie überhaupt wirklich gibt. Und doch. Hinter oder unter oder über all den hier angesprochenen Konflikten, den wütenden Angriffen, Forderungen und Streitschriften steht doch immer ein kleinster gemeinsamer Nenner: der Wunsch nach starken Filmen. Oder eben auch: nach dramatischem Erzählen.  So paradox es klingen mag: fordern wir hier ruhig einmal so etwas wie “Die Liebe zum Konflikt”. Sie wird uns in der gegenseitigen Auseinandersetzung offener machen, direkter – und zugleich angstfrei werden lassen.

Es gibt sie nun mal, die Wertegegensätze. Jeder kennt sie, jeder muss damit zurande kommen. Es ist aber die Liebe (zum Kino, zum Leben, zu… wem auch immer), die als einzige Kraft von allen Wertkonflikten unberührt bleibt. Man liebt nicht, weil etwas “gut” ist, sondern weil man eine leidenschaftliche Sehnsucht nach etwas verspürt (wie z.B. einem gelungenen Film). “Es ist, wie es ist, sagt die Liebe”, schrieb Erich Fried. Das könnte man auch über den deutschen Film und ihre Macher sagen – wie klänge, wenn man das ernst nähme, die ewige Klage über unsere gegenwärtige Befindlichkeit dann?!

Mir scheint: wenn es gelingt, die während jeder Drehbucharbeit auftauchenden Spannungen auszuhalten, zu benennen und – ja, eben mit Liebe – in das Entwickeln von Geschichten mit einzubringen, wird es auch hierzulande gelingen, so etwas wie “Ziemlich beste Freunde”, oder auf jeden Fall ziemlich beste Filme jeder Richtung herzustellen. Man kann, darf, muss da optimistisch bleiben!

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ROLAND ZAG ist Drehbuchberater und -coach. Sein Buch „Der Publikumsvertrag“ ist inzwischen in zweiter Auflage erschienen, seine Drehbuchtheorie ‚the human factor‘ gilt als einflussreiche Ergänzung zu den klassischen Lehren. Er war beteiligt an der Entstehung von Filmen wie „Die Fremde“, „Wüstenblume“, „Eine ganz heiße Nummer“, „Schlussmacher“, „Heute bin ich blond“, „Der Medicus“ uvm.